Leben und Sterben

Vor gut fünf Wochen bekam ich einen Anruf: Meine Mutter ist tot. Ich weiß nicht, wie es dir geht. Wie dein Verhältnis ist zu deinen Eltern. Oder ob du vielleicht selbst schon mal solch einen Moment erlebt hast. Es ist einer jener Momente im Leben, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Innerhalb einer Sekunde gingen mir nacheinander drei Gedanken durch den Kopf: „Das ist offensichtlich ein Scherz. Jemand will dich gerade veralbern.“ „Selbst wenn es echt ist. Tu so, als hättest du’s nicht gehört. Dann ist es nicht real.“ „Nein, Leo. Das hier IST real. Das IST der Moment. Du hast nicht damit gerechnet, aber er ist hier. Du musst jetzt damit klarkommen. Und du wirst damit klarkommen.“ Von da an lief alles auf Autopilot. Ich musste hinfahren. Musste meine Großeltern anrufen und ihnen sagen, dass ihre Tochter nicht mehr lebt. Musste mit dem Beerdigungsinstitut den Sarg auswählen und entscheiden, ob das Totenhemd rot sein soll oder weiß. Es gab wenig Zeit zum Nachdenken — und doch ist die Bedeutung dieser Veränderung langsam, aber mit schonungsloser Bestimmtheit in mein kleines Hirn eingesickert. Was mich getroffen hat in dieser Zeit war die absolute Konsequenzhaftigkeit dieses Augenblicks: Die Person, die mein Stützrad gewesen ist, die mich als kleiner Junge ins Leben geschoben hat, damit ich meinen eigenen Weg finde — diese Person ist jetzt fort. Ich bin jetzt alleine. Es ist eine Sache, zu entdecken, dass man ohne Stützräder fahren kann. Es ist eine andere Sache, den Stützrädern Lebewohl zu sagen, und zu wissen, dass egal, was du im Leben tust: Sie kehren nie mehr zurück. Den restlichen Weg, wie weit...