Vor gut fünf Wochen bekam ich einen Anruf:

Meine Mutter ist tot.

Ich weiß nicht, wie es dir geht. Wie dein Verhältnis ist zu deinen Eltern. Oder ob du vielleicht selbst schon mal solch einen Moment erlebt hast.

Es ist einer jener Momente im Leben, auf die man sich nicht vorbereiten kann.

Innerhalb einer Sekunde gingen mir nacheinander drei Gedanken durch den Kopf:

  1. „Das ist offensichtlich ein Scherz. Jemand will dich gerade veralbern.“
  2. „Selbst wenn es echt ist. Tu so, als hättest du’s nicht gehört. Dann ist es nicht real.“
  3. „Nein, Leo. Das hier IST real. Das IST der Moment. Du hast nicht damit gerechnet, aber er ist hier. Du musst jetzt damit klarkommen. Und du wirst damit klarkommen.“

Von da an lief alles auf Autopilot.

Ich musste hinfahren.

Musste meine Großeltern anrufen und ihnen sagen, dass ihre Tochter nicht mehr lebt.

Musste mit dem Beerdigungsinstitut den Sarg auswählen und entscheiden, ob das Totenhemd rot sein soll oder weiß.

Es gab wenig Zeit zum Nachdenken — und doch ist die Bedeutung dieser Veränderung langsam, aber mit schonungsloser Bestimmtheit in mein kleines Hirn eingesickert.

Was mich getroffen hat in dieser Zeit war die absolute Konsequenzhaftigkeit dieses Augenblicks:

Die Person, die mein Stützrad gewesen ist, die mich als kleiner Junge ins Leben geschoben hat, damit ich meinen eigenen Weg finde — diese Person ist jetzt fort.

Ich bin jetzt alleine.

Es ist eine Sache, zu entdecken, dass man ohne Stützräder fahren kann. Es ist eine andere Sache, den Stützrädern Lebewohl zu sagen, und zu wissen, dass egal, was du im Leben tust: Sie kehren nie mehr zurück. Den restlichen Weg, wie weit auch immer er sein mag, musst du alleine gehen, und wirst du alleine gehen.

Das ist was ich meine mit „absolute Konsequenzhaftigkeit“:

Es gibt so Vieles, über das wir uns im Leben so unglaublich viele Gedanken machen:

Welches Auto wir uns kaufen.

Ob wir dem Mädel so-und-so sagen, dass wir sie toll finden.

Ob wir dieses studieren oder jenes.

All diese Dinge haben natürlich auch Konsequenzen, klar. Aber du kannst sie später wieder ändern. Machst du einen Fehler, dann kommt die Zeit, und sie heilt deine Wunden, und du kannst wieder von vorne beginnen.

Das ist was das Leben ausmacht:

Es gibt immer eine zweite Chance.

Bist du krank, kannst du auf Genesung hoffen.

Hat sich deine Frau von dir getrennt, kannst du auf neues Glück hoffen.

Ja, selbst wenn du zu lebenslänglicher Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt worden bist, darfst du darauf hoffen, dass dir der Richter irgendwann die letzten Jahre erlässt, und du doch noch einmal raus kommst, zurück ins Leben. Denn, egal wie hoch die Schuld, Eingesperrtsein ohne wenigstens den Funken einer Hoffnung auf Freiheit, das, sagt unser Bundesverfassungsgericht, wäre nicht mehr lebenswürdig.

Ein Licht am Ende des Tunnels, egal wie groß oder klein — das ist im Leben immer da, und das macht das Leben aus.

Der Tod ist anders.

Er ist endgültig.

Da gibt es kein Licht, und es gibt keine zweiten Chancen.

Das klingt erschreckend.

Aber ich finde, es liegt auch etwas Beruhigendes darin.

In einer Zeit, wo alles „virtuell“ ist, wo das Leben vollgestopft ist mit Wahlmöglichkeiten, und wo der Mensch glaubt, dass er alles kontrollieren kann so lange er nur den Willen dazu hat… da hat der Tod etwas erdendes. Etwas, das uns auf den Boden zurück holt. Und das uns daran erinnert, wie machtlos, zerbrechlich und bedeutungslos wir eigentlich sind im großen Spiel des Lebens.

Und auch das ist eine große Beruhigung.

Dieses Leben das du hast, das gehört dir. Du kannst damit tun, was du möchtest. Und es ist unmöglich, etwas falsch zu machen. Ob du als Millionär stirbst oder als Armer, ob du geliebt wurdest oder gehasst, ob du glücklich warst oder unglücklich — nichts von alledem wirst du mitnehmen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dass du von dieser Welt gehst.

Das Leben ist ein Spiel ohne Verlierer.

Von außen betrachtet natürlich nur.

Von innen betrachtet kannst du überall und ständig verlieren. Zuwenig Geld. Unglückliche Schicksalsschläge. Prokrastination und Selbstverachtung. Es gibt genügend Dinge im Leben, mit denen man sich benachteiligt fühlen kann.

Und trotzdem:

Auch der benachteiligtste Mensch auf der Welt wird genau am selben Ort enden, wo auch der erfolgreichste Mensch auf der Welt endet. Nämlich auf dem Friedhof. Der nicht umsonst heißt, „Fried-Hof“. Der Hof, auf dem alles Streben, Hoffen, Leiden, Triumphieren und Suchen sein friedliches Ende findet.

Und das, findest du nicht auch, hat doch irgendwie etwas Beruhigendes, oder?

Denn wenn es, im Großen betrachtet, keinen Unterschied macht, wie du dein Leben lebst, dann heißt das, dass du es wirklich in die Hand nehmen kannst.

Es ist wirklich deins!

Trotz aller Trauer — oder auch wegen aller Trauer — hat mich der plötzliche Tod meiner Mutter einiges gelehrt. Oder zumindest hoffe ich so. Und ich möchte versuchen, ein paar dieser Lektionen für dich in Worte zu fassen.

LEKTION #1:
Du bist allein

Die letzte Meile im Leben, die gehst du allein.

Meine Mutter ist alleine in ihrem Bett gestorben. Nachts gegen 4 Uhr morgens.

Aber ob du alleine in einem Zimmer bist, wenn es passiert, oder umringt von deinen Liebsten:

In dem Moment, wo „die Lichter ausgehen“, und dir im Sterben das Bewusstsein über das Hier und Jetzt schwindet, da bist du sowieso alleine. Du bist dann „all-ein“: Du bist Alles, und du bist Eins.

Du brauchst nicht religiös zu sein, um das zu glauben. Du brauchst nur zu lesen, was Menschen mit Nahtoderlebnissen berichten. Oder es muss dir nur selbst mal „schwarz vor Augen“ geworden sein. Oder brauchst dich nur an den Moment des abendlichen Einschlafens erinnern können. Dann weißt du, dass das Momente sind, wo es nichts mehr gibt außer deinem Bewusstsein („Alles“), und wo du im Frieden bist mit dir und der Welt („Eins“).

Die letzten Worte von Apple-Gründer Steve Jobs waren, laut seinen Angehörigen, „Oh wow“. Deshalb denke ich, dass dieses finale „Alleinsein“ nichts ist, das man fürchten müsste.

Der Hirnchirurg Eben Alexander, der nach einer Hirnhautentzündung selbst dem Tod sehr nahe gekommen ist, berichtet es als einen Moment, in dem sich plötzlich alle Rätsel auflösten, die er im Leben nicht hatte lösen können.

Die Buddhisten sehen das Leben als ein großes Schauspiel, und wenn du stirbst, dann löst sich das Drama auf.

Das Leben der Witz, und der Tod die Pointe. Wissen tun wir’s alle nicht. Aber da ich mich nicht dran erinnern kann, dass irgendetwas Schlimmes gewesen wäre, bevor ich geboren wurde, kann ich mir auch nicht vorstellen, dass irgendetwas Schlimmes geschehen wird, nachdem mein Bewusstsein von der Welt erlischt.

Ich denke, alles ist gut.

Und was heißt das für uns Lebende?

Es heißt, dass wir uns ein wenig albern benehmen, wenn wir ständig so furchtbare Angst vor dem Alleinsein haben.

Vor dem sozialen Alleinsein genauso wie vor dem geistigen Alleinsein — wenn du aussprechen sollst, was niemand anders ausspricht, oder wenn du einen Weg gehen sollst, von dem du Angst hast, dass Andere nicht mitgehen.

Es gibt Wege im Leben, die gehst du sowieso allein.

Manche davon bist du schon gegangen. Und andere wirst du noch gehen — genauso wie Milliarden von Menschen vor dir sie gegangen sind.

Das sind Wege, auf denen du „alleiner“ bist, als du es im Alltagsleben je sein könntest. Also warum die Furcht vor diesem „Alleinsein Light“, das das Leben manchmal zu bieten hat? Es ist wirklich kein großes Ding.

Das Wort „Allein“ hat diesen Beiklang von „ausgestoßen“, „versagt“ und „verraten“. Aber das ist alles der Ballast, den wir an das Wort dranhängen. Was das Wort wirklich sagt ist nur „all-ein“. Du bist alles. Du bist eins. Und das ist doch für sich genommen gar nichts Schlechtes.

Im Gegenteil: Erst dadurch, dass jemand für sich alles ist und eins ist mit sich, erst dadurch kann er überhaupt in Beziehung zu Anderen treten. Du bist — und erst dadurch bist du auch für Andere da.

Und das heißt, die Wege im Leben, die du alleine gehst, die sind keine „Bestrafung“. Sondern das sind die Momente, die dich formen.

Das sind die Momente, die dich als den Menschen ausmachen, den wir Anderen dann kennenlernen. Sie sind viel mehr dein „wahres Ich“ als jede Rolle, die du im Alltag einnimmst — unter Kollegen, im Freundeskreis, oder in der Familie.

Du selbst bist mehr als die Rollen, die du im Alltag spielst. Und das entdeckst du gerade immer dann, wenn du allein bist. Entweder sozial allein, dass also gerade niemand um dich herum ist, und du Facebook und Whatsapp beiseite legst. Oder geistig allein, indem du Sachen tust, bei denen dich im Moment niemand begleitet.

Frauenansprechen, auf Reisen gehen, den ersten Schritt zur Lösung eines alten Konflikts machen — all diese Dinge können spirituelle Nahrung für dich sein. Nicht unbedingt für dein Ego, das vor solchen Sachen oft Angst hat oder sich durch sie herabgesetzt fühlt. Aber für deine Seele, für dein wahres Ich.

LEKTION #2:
Es gibt kein „festes Mobiliar“ in deinem Leben

Ich hatte meine Mutter immer als etwas Gegebenes gesehen.

Sie war „einfach da“.

Sie war einer der Fixpunkte in meinem Leben. Kindergarten, Schule, Freunde — all das mag sich geändert haben. Ja, ich selbst habe mich geändert. Ich bin größer geworden. Habe mich für andere Sachen interessiert. Bin weggezogen. Habe neue Seiten an mir entdeckt. Aber sie war immer da. Und das war selbstverständlich. Anders habe ich es nie gekannt.

Sie war wie das Mobiliar meines Lebens. Wie ein alter Schrank, der schon immer da ist. Der manchmal knarzt. Der einen manchmal nervt. Aber der dazu gehört. Der schon immer da war. Und ohne den sich „Zuhause“ nicht wie Zuhause anfühlen würde.

Ich weiß jetzt, dass das ein sehr kindisches Bild ist.

So etwas wie „das feste Mobiliar“ im Leben gibt es nicht.

Alles ist ständig in Bewegung.

Und was du denkst, was fest steht, driftet in Wahrheit langsam davon.

Hape Kerkeling hat es gut in Worte gefasst:

Er sagt, das Leben sei wie ein Besuch im Freibad. Am Anfang kommst du hin, und du bist ein totaler Fremder dort. Dann lernst du langsam Leute kennen. Einige sind schon lange dort. Andere sind erst kurz vor dir reingekommen. Aber noch während du dich umsiehst und Bekanntschaften schließt, verlassen stetig Menschen das Freibad. Die meisten, die gehen, kennst du nicht. Aber je länger du bleibst, umso öfter ist unter denen, die gehen müssen, auch jemand, den du kennengelernt hast. Und irgendwann wirst du dich umsehen, und es ist fast keiner mehr da von den Leuten, die du ursprünglich dort angetroffen hattest. Sondern dann bist du plötzlich unter den „Ältesten“ dort. Du bist das, was die Neuankömmlinge im Moment als „das Mobiliar des Freibads“ ansehen. Denn du bist, aus ihrer Sicht „schon immer“ hier gewesen. Dass auch du erst vor Kurzem angekommen bist, dass du selbst erst vor kurzer Zeit hier „Neuling“ warst, das können sie sich nicht vorstellen. Und auch nicht, dass der Zeitpunkt kommen wird, wo du nicht mehr da bist. Wo es das Freibad weiter gibt wie eh und je, mit Menschen die dort ein und ausgehen — aber dich nicht mehr.

Wahrscheinlich ist das einer der Erwachensmomente, die man im Leben haben muss, bevor man wirklich erwachsen ist. Dass einem aufgeht, dass es so etwas wie das „feste Mobiliar“ im Leben gar nicht gibt.

Als Kind lebst du so, als gäbe es das. Mama und Papa sind dein Mobiliar. Sie sind einfach da — genauso wie die Türen und Fenster in eurer Wohnung. Sie sind da, und sie geben den Rahmen vor. Das ist wie du’s siehst als Kind. Und das ist worauf du dich stützt. Aber der Schein trügt. Der Rahmen ist nicht so fest, wie du es dachtest. Irgendwann bricht er weg, und du wunderst dich. Und irgendwann wunderst du dich noch mal — nämlich dann, wenn du plötzlich der Rahmen für jemand anderen wirst. Wenn du selbst einmal Kinder hast, und deine Kinder DICH als „das feste Mobiliar“ ansehen. Und du es vielleicht für eine Zeit lang selber glaubst.

Vielleicht ist es das, was der Buddha gemeint hat, als er sagte, man solle nicht „klammern“ an den Dingen:

Dass man rauskommen muss aus der kindlichen Vorstellung, man sei geboren worden in eine Welt, die „fest“ ist. Eine Welt, in der die Klettergerüste stehen, wo sie stehen, und wo deine Rolle nur ist, passiv mit dem zu spielen, was Andere dir hingestellt haben.

Dass du stattdessen begreifst, dass diese Vorstellung vom „festen Mobiliar“ ein Irrtum ist. Dass alles, was um dich herum existiert, von Menschen gemacht wurde, die genauso planlos waren wie du, und die immer noch genauso planlos sind wie du.

Ich schätze, wem das wirklich bewusst ist, der wird automatisch bewusster Leben. Er wird mehr Risiken eingehen im Leben. Er wird sich mehr trauen. Er wird sich weniger einbilden. Er wird mehr Mitgefühl haben mit jenen, die ihn enttäuscht haben. Er wird gleichzeitig bescheidener sein und mutiger. Und er wird seinen Mitmenschen ein guter Freund sein, ein guter Anführer, und ein guter Lehrer.

Leider kann ich nicht behaupten, dass man dieses Bewusstsein für sich gepachtet hätte, bloß weil man den Tod eines nahen Angehörigen miterlebt hat. Die tiefen Einsichten und guten Vorsätze, die werden auch wieder untergehen, nach und nach im Rauschen des Alltags. Und ehe man sich versieht, ist man dann wieder drin „in der Matrix“.

Man muss sich also immer wieder neu an diese Einsicht erinnern.

Sie kommt einem nicht aus dem täglichen Leben heraus — sondern sie kommt gerade aus der Distanz von ihm.

Reinhard Mey sang einst in einem Lied, dass er gerne auf einen Friedhof geht, einfach um dort zu sitzen. Befreiend finde er das, und beruhigend.

Er singt:

„Ich sitz‘ gern auf einer Friedhofsbank,
Seh‘ die schattigen Alleen entlang
Und denk‘ nach über den tief’ren Sinn der Reise.
Mit dem schicken Laptop auf den Knien
Blätter‘ ich von Termin zu Termin
Und wenn „Wichtig!“ davor steht, kicher‘ ich leise.
Kann ja sein, ich verpass‘ grad den Tanz
Um das gold’ne Kalb — aus der Distanz
Wird nicht jedes „Dringend“ und „Eilt“ sehr beachtet.
Es ist nichts, von dem man immer denkt,
dass die ganze Welt davon abhängt,
Wichtig, von einer Friedhofsbank aus betrachtet.“

LEKTION #3:
Jeder hat seine Uhr

Ich hatte die letzten Wochen mit mehreren Leuten zu telefonieren. Erbschein, Rentenzeug — solche Sachen.

Unter anderem sprach ich mit einem Herrn von der Deutschen Rentenversicherung. Der Mann war ein interessanter Typ, und wir sind privat ein wenig ins Gespräch gekommen.

Und er sagte mir:

„Wissen Sie, Herr Baumgardt, ich stelle mir vor, dass jeder Mensch eine ganz persönliche Uhr hat. Meine Uhr, Ihre Uhr, die läuft zu einem bestimmten Zeitpunkt ab. Wir wissen nur nicht, wann das sein wird.“

Und das fand ich eine schöne Metapher!

Es hat mir schon immer Leid getan, wenn Menschen, die jemanden verloren haben, sich hinterher selbst gefoltert haben mit Gedanken wie…

„Wenn doch nur dies und jenes anders gelaufen wäre, DANN wäre Martina jetzt noch am Leben“

Solche Gedanken sind nicht nur schmerzhaft — sondern sie sind meiner Meinung nach auch irrig.

Meine Mutter ist das beste Beispiel:

Sie starb, unter anderem, weil sie ihr Leben lang an einem Lungenleiden litt. (Freilich haben wir alle nicht realisiert, wie ernst es eigentlich war. Ich glaube, das hat sie selber nicht. Man verschließt eben gerne die Augen vor dem, was man nicht sehen will.)

Aber der Punkt ist der:

Meine Mutter hatte meinen Vater kennengelernt, als sie 23 war und für eine Lungenoperation ins Krankenhaus musste. Mein Vater war zufällig Arzt dort. Und nur dadurch haben sie sich kennen gelernt.

Heißt:

Hätte meine Mutter nicht dieses Lungenleiden gehabt, dann würde es mich jetzt gar nicht geben.

Der Umstand, dass es mich gibt, und der Umstand, dass sie nur 62 Jahre alt geworden ist, sind miteinander verknüpft. Das Eine und das Andere sind beides Symptome ein und derselben „Karte“, die meiner Mutter bei ihrer Geburt in die Hand gegeben worden sind.

Hätte sie bei ihrer Geburt eine andere „Karte“ gezogen, wäre ihr ganzes Leben anders verlaufen. Sie hätte sicher auch woanders gelebt, hätte etwas anderes gearbeitet, und hätte sich mit anderen Menschen umgeben. Besser oder schlechter, das kann man nicht sagen. Aber sie wäre jedenfalls nicht der Mensch geworden, um den wir heute trauern.

(Und natürlich: DASS sie ausgerechnet diese Karte gezogen hat im Leben, das ist auch nicht nur „Zufall“. Sondern das ist wiederum die zwingende Folge von anderen Umständen. Angefangen vom Zeitpunkt der Empfängnis, über die DNA meiner Großeltern, über deren Eltern und Gene, bis tief hinein in die Evolutionsgeschichte und Zeitgeschichte der Menschheit, auf deren Ozean die Geschichte meiner Familie nur eine Welle unter Milliarden ist.)

Ich denke, alles, was wir im Leben als „Nachteil“ sehen, hat immer auch gute Seiten.

David Bowie mit seinen zwei verschiedenfarbigen Pupillen wird wahrscheinlich eine zeitlang seine Gene verflucht haben. Er wird sich als Kind sicher mal gefragt haben, warum das Schicksal ihn nur so straft, indem es ihn so anders aussehen lässt als seine Klassenkameraden. Bestimmt gab es eine Zeit, wo er sich gewünscht hätte, dass er einfach so ist, wie „die Anderen“ (wobei „die Anderen“ natürlich immer eine Abstraktion sind; wenn man diesen Ausdruck gebraucht, dann übersieht man dabei gerne alles, was selbst innerhalb dieser Gruppe der „Anderen“, der „Normalen“ vom Durchschnitt abweicht… so weit, bis gedanklich nur noch ein Idealmensch übrig bleibt, den es „in echt“ nirgendwo wirklich gibt).

Inzwischen strahlen David Bowies verschiedenfarbige Pupillen jetzt von allen möglichen Plattenhüllen, und so mancher anderer Künstler wird sich wohl darüber ärgern, dass seine eigenen Pupillen so furchtbar langweilig sind, und so furchtbar durchschnittlich.

Also in allem „Schlechten“ steckt auch immer der Keim für etwas Gutes.

Ich würde sogar wetten, dass viele unserer Newsletterleser hier nicht auf der Welt wären, wenn Adolf Hitler nicht den zweiten Weltkrieg angefangen hätte.

Es ist zweitrangig, ob man die Kausalkette erkennen, verstehen und in Worte fassen kann. Das Wichtige ist, dass das Leben auf dem Planeten Erde, und das Universum insgesamt, ein großes Ganzes ist, und dass kein Teil darin für sich alleine existiert.

Bedenke nur, was alles hat passieren müssen, damit du heute existierst, so wie du bist. Nicht nur all deine Ahnen müssen sich begegnet sein, wie sie sich begegnet sind. Sondern auch bei deiner Zeugung muss alles exakt so gelaufen sein, wie es gelaufen ist. Eine Millisekunde früher oder später, und es wäre ein anderes Spermium eingezogen in die Eizelle. Du wärst nicht du geworden, dein Leben wäre gänzlich anders verlaufen, und du wärst jetzt nicht an dem Ort, wo du bist, und würdest nicht tun, was du gerade tust: Nämlich diese E-Mail von mir lesen.

Die Vergangenheit hat Gutes, und die Vergangenheit hat Schlechtes — aber als Ganzes ist sie, was uns ausmacht.

LEKTION #4:
Es steckt mehr hinter deinen Mitmenschen, als du siehst

Jetzt, wo ich im Nachlass meiner Mutter stöbere, sehe ich Seiten von ihr, von denen ich keine Ahnung hatte. Als ihr Sohn hatte ich meine eigene Perspektive auf sie. Aber es hat viele andere Menschen in ihrem Leben gegeben. Und jeder einzelne Mensch davon hatte seine ganz eigene Perspektive auf sie. Für den einen war sie Mutter. Für den Anderen war sie Kollegin, Tochter, Nachbarin, Exfrau, Freundin, Lieblingslehrerin, oder einfach „die zierliche, freundliche Frau in der roten Jacke, die jeden Freitag hier reinkommt und Katzenstreu kauft“.

Die Kondolenzbriefe zu lesen ist schwer genug. Was ich da lese, das sind im Grunde „Danke-Briefe“ an sie. Danke-Briefe dafür, dass sie jemandem eine herzensgute Kollegin war, oder jemand Anderem die beste Deutschlehrerin, oder die beste Freundin. Das sind Worte, die sie hätte lesen sollen. Sie sind an sie gerichtet — nicht an mich.

So schwer es ist, die Worte des Dankes zu lesen, die sich jemand anders mit seinem Leben verdient hat… und so falsch es sich anfühlt, dass es die eigenen Augen sind, die diese Worte jetzt lesen, und nicht die der Person, an die die Worte eigentlich gerichtet sind… es zeigt einem auch, dass die Person, die für dich selbst vielleicht nur „Mutter“ war, in Wahrheit vieles mehr gewesen ist. Vieles mehr, das du, weil du in deiner Rolle gefangen warst, zu ihren Lebzeiten nicht gesehen hast.

Schon letzten Januar hatte ich darüber nachgedacht. Zu dieser Zeit starb der Vater meiner Freundin. Er war Dirigent. Ich hatte eines seiner letzten Konzerte gesehen. Und auch ohne, dass ich bei diesem Konzert von ihm geahnt hätte, dass er zwei Monate später nicht mehr sein würde, hatte ich, als ich ihn da so von hinten auf der Bühne stehen sah, den Gedanken gehabt:

„Wenn er da so steht, umrandet von Licht, mit dem weißen Haar und in dem schwarzen Frack das Orchester dirigierend — da ist er schon mehr Legende als bloß Mensch. Da sieht man in ihm kein Ego, mit Ängsten und Bedürfnissen. Sondern man sieht einen Vertreter einer anderen Welt. Jener Welt, der auch die Musik von Händel entstammt, die er dirigiert. Man sieht in ihm, jetzt in diesem Augenblick, einen Vertreter der Welt des Ewigen.“

Hört sich jetzt alles vielleicht sehr pathetisch an. Aber was ich damit meine ist eigentlich ganz simpel:

Der Mensch kann mehr sein als sein Ego.

In dem Moment, wo du nicht damit beschäftigt bist, vor deinen Ängsten davon zu laufen oder Dingen, von denen du meinst sie zu brauchen, hinterherzugieren — in dem Augenblick bist du erst wirklich Mensch.

Und:

Erst in dem Augenblick können andere Menschen dich auch überhaupt erst wirklich sehen!

Vorher, solange du in deinem Ego gefangen bist, solange du mit deinen Ängsten beschäftigt bist, so lange du an Dingen klammerst und Sachen für dich selber haben willst, so lange sehen andere Menschen in dir immer auch ein Hindernis. Sie KÖNNEN dich gar nicht wirklich an sich heran lassen, weil du immer auch ein bisschen eine Gefahr für sie bist.

Stell dir vor, der Vater meiner Freundin hätte dirigiert, und jeder hätte gewusst, dass er damit nur beeindrucken will. Weil er vielleicht hofft, dadurch „entdeckt“ zu werden. Oder eine gute Kritik zu bekommen. Oder einen Konkurrenten auszustechen. Meinst du, die Leute hätten seine Musik an sich ranlassen können?

Und ich glaube, so ähnlich ist es oft auch mit Verwandten und Freunden:

Ja, du magst sie, weil sie dir viele Sachen ermöglichen. Und sei’s nur, dass du in ihnen jemanden hast, mit dem du reden kannst.

Aber Freunde und Verwandte haben, so lange sie am Leben teilhaben, auch selbst Bedürfnisse, Ängste und Komplexe. Es gibt im Leben immer auch Grenzen: Wie weit du mit der Person gehen kannst. Und so ist jede Beziehung unter Lebenden fast immer auch irgendwo „beschnitten“. Du magst den Menschen lieben — aber du kannst es ihm vielleicht nicht zeigen (hier bin auch ich schuldig im Sinne der Anklage), oder du bist zu sehr geblendet von anderen Emotionen, um es überhaupt selbst zu realisieren (auch hier: schuldig im Sinne der Anlage).

Und auch in Beziehungen siehst du das:

Erst, wenn die Beziehung zerbricht, da merkt man dann plötzlich, wie sehr man den Anderen doch liebt und braucht, und wie sehr man ihn zurück haben möchte.

Und ich denke, die Ursache dafür ist, dass man im alltäglichen Miteinanderleben eben oft genug geblendet ist von den kleinen „Ego-Schlachten“, die man miteinander führt.

Ist der andere Mensch dann fort, dann ist auch sein Ego fort. Dann ist nichts mehr da, das dich bedroht. Der Andere konkurriert nicht länger mit dir. Er nimmt dir nichts mehr weg. Steht dir nicht mehr im Weg. Er kritisiert dich nicht mehr und er drängt sich dir nicht mehr auf. Alles, was von ihm bleibt, ist deine Erinnerung. Und das ist die Erinnerung an das Schöne. Und die kannst du nun plötzlich ganz zulassen.

Und das ist schon komisch bei uns Menschen:

Das wir manchmal die Erinnerung an einen verlorenen Menschen besser und voller zulassen können, als wir den Menschen selber zulassen konnten, als er noch da war.

Das ist oft wahr nach Trennungen.

Und es ist, so scheint mir, fast immer wahr nach einem Todesfall.

Da ist sie oft da — aber leider zu spät:

Die pure, selbstlose Dankbarkeit.

Und die Frage ist:

Warum schaffen wir es so selten, über unseren Schatten zu springen, diese Dankbarkeit zu sehen, und diese Dankbarkeit in Worte zu fassen, so lange der andere Mensch noch vor uns ist?

Mein Freund Nicco hat eine schöne Gewohnheit:

Ungefähr ein, zweimal im Jahr bekomme ich von ihm eine kurze SMS. „Danke für unsere Freundschaft“, „Das war ein schöner Urlaub mit dir“, „Ich schätze dies und jenes an dir“. Und er macht das einfach so. Ohne Anlass.

Nicco ist als Arzt einen Schritt näher dran an der Wahrheit über unsere Sterblichkeit als viele von uns es sind. Er sieht Menschen, die auf dem OP-Tisch sterben, und deren Leben vorzeitig zu Ende gegangen ist. Und er sieht Menschen, die nach einer Operation wieder gesunden, und denen praktisch ein neues Leben geschenkt wurde.

Für die meisten von uns aber ist diese Zerbrechlichkeit des Lebens dick verhüllt und weggepackt in die hinterste Ecke in unserem Bewusstsein.

Ich habe auch abstrakt „gewusst“, dass Eltern irgendwann sterben. Aber ich kannte die Statistiken, und ich war davon ausgegangen, dass ich mich schon darauf verlassen kann. Meine Mutter wäre, wenn überhaupt, erst in 25 Jahren oder so „fällig“ gewesen. Und selbst dann hätte ich, mir die Realität zurecht biegend, vom Schicksal doch erwartet, dass es etwas mehr Zeit gibt als nur die „Durchschnittliche Lebenserwartung“. Durchschnitt heißt schließlich, dass einige drüber liegen und einige drunter. Und natürlich erwartet man, dass es immer die Anderen sind, die drunter liegen.

Es ist schon interessant:

Einige der erfolgreichsten Menschen sagen ganz offen, dass es die Berührung mit dem Tod gewesen ist, die ihnen den „Arschtritt“ verpasst hat, durch den sie dann schlussendlich Großes geleistet haben.

Da ist die berühmte Rede von Steve Jobs an der Stanford-Universität, in der er den Absolventen rät, dass sie immer schön hungrig und naiv bleiben sollen, weil das Leben kurz ist.

Da ist George Lucas, der Star Wars geschrieben hat, nachdem er wie durch ein Wunder einen fürchterlichen Autounfall überlebt hatte. (George sagte selber, „Diesen Unfall hätte ich eigentlich nicht überleben können.“)

Und da ist Elon Musk, der vor 16 Jahren beinahe an Malaria gestorben wäre — und der mittlerweile mit SpaceX als erstes privates Unternehmen Raumkapseln bis an die Internationale Raumstation schießt und mit Tesla Elektroautos baut, von denen die Leute begeistert sind und die beim amerikanischen Pendant zur Stiftung Warentest im Testbericht von 100 möglichen Punkten 103 bekommen haben.

Ich kann es nicht beweisen — aber ich kann mir gut vorstellen, dass vieles von der Lustlosigkeit, von der Passivität und von dem gelangweilten Konsumententum mancher jungen Menschen heutzutage auch einfach daher kommt, dass wir vom Tod so verschont sind. Dass wir in dieser Blase leben, in der sich das Leben nur darum dreht, ob man das neueste iPhone hat, wie viele Freunde bei Facebook, und mit welchem Auto man zur Arbeit düst. Vielleicht haben wir den Blick auf das Leben selbst verloren. Und vielleicht hängt das eben gerade auch damit zusammen, dass das Ende des Lebens so gut vor uns versteckt wird. Dass die Familien in immer kleinere Einheiten zusammenschrumpfen, wo man nicht viel davon mitbekommt, wenn ein entfernterer Verwandter stirbt. Dass Oma im Altersheim wohnt, wo sich andere Leute um sie kümmern. Und dass die Werbung uns ständig junge Gesichter vorhält, und so tut, als ob das Leben ewig weiter ginge. Man kann sich über diese Entwicklungen schwer beklagen. Es hat schon alles seinen Grund, warum es so ist. Aber es ist eben auch möglich, dass uns damit auch etwas verloren geht.

Wenn du möchtest, mach doch mal folgende kleine Übung:

Stell dir vor, du warst gestern beim Arzt und hast dich untersuchen lassen. Und heute klingelt das Telefon, und der Arzt sagt dir, „Es tut mir sehr leid, aber Sie haben nur noch 24 Stunden zu leben“.

Ich weiß, dass das ein Klischee ist — dieses „Sie haben nur noch 24 Stunden zu leben“. Aber versuch es dir mal vorzustellen. Kannst du für einen Augenblick reinfühlen, wie es dir gehen würde, wenn das jetzt wirklich gerade real wäre?

Wenn es dir gelingt, dann frag dich:

Was würdest du machen wollen in diesen letzten 24 Stunden? Wie würdest du diese Zeit füllen? Welchen Menschen würdest du Teile dieser Zeit schenken? Was würdest du bereuen, nicht geschafft zu haben im Leben? Und was wäre dir noch wichtig, in diesen letzten Stunden zu erledigen? Welche Gespräche oder Telefonate würdest du führen? Welche „offenen Baustellen“ in deinem Leben würdest du versuchen, in diesen letzten Stunden noch zu einem Abschluss zu bringen? Und was gäbe es, was du jemandem noch sagen wollen würdest, wenn du wüsstest, dass du morgen um diese Zeit nicht mehr da sein wirst?

Das ist eine sauschwere Übung.

Und wie es WIRKLICH wäre, das kann man nie wissen. Denn anders als bei der Übung hättest du im Ernstfall nicht mehr das Hintertürchen offen, das da sagt, „Das ist ja nur eine Übung, das ist ja alles nur fiktiv“. Dieses kleine Hintertürchen, diese Möglichkeit zur Rückkehr in die Normalität, die wäre dir, wenn es echt wäre, verschlossen. Und damit wäre alles ganz dramatisch anders.

Trotzdem ist es eine interessante Übung. Und vielleicht stößt sie dich ja auf ein paar Dinge, die dir tief im Inneren offenbar wichtig sind, aber an die du bisher im Alltagsleben nicht gedacht hast.

Der Tod verschiebt eben die Perspektiven. Er kann manchmal helfen, das Auge auf die Dinge zu lenken, die wirklich wichtig sind. Die wichtig sind nicht nur im Kontext von heute und morgen, sondern die wichtig sind für dich als Mensch, und für das, was dein Leben ausmacht.

Und vielleicht stößt du bei der Übung ja auch auf etwas, was du schon jetzt angehen kannst, heute oder in den nächsten Tagen, anstatt darauf zu warten, bis dir wirklich die Zeit ausgeht.

Ein Beispiel:

Stell dir vor, dir fällt in deinen letzten 24 Stunden ein, wie sehr du es bereust, dass du nie eine Weltreise gemacht hast. Wäre das nicht blöd?

Klar:

Selbst wenn du’s gemacht hättest, würdest du die Erfahrung auch nicht „mitnehmen“ können. An der Pforte zum Jenseits werden alle Erlebnisse und Erinnerungen abgegeben. Insofern hast du nicht wirklich etwas verloren, und dein Leichnam wird nicht ärmer sein als der jenes Menschen, der vielleicht alle sieben Kontinente bereist hat, und der jetzt ein Grab weiter rechts liegt.

Aber wenn dir so eine Reise so wichtig ist, dass du traurig wärst, wenn das Leben zu Ende wäre ohne dass du sie geschafft hättest — dann mach sie doch jetzt! Warte nicht, bis die Zeit dich dazu drängt. Sondern tu es proaktiv. Tu es solange du noch fit bist, und solange du weißt, dass du es kannst.

Ich weiß:

Andere Leute denken so nicht.

Andere Leute denken, man sollte sich solche Träume aufheben für die Rente.

Aber vielleicht ist auch das wieder so eine Sache, die du eben machen musst, SELBST WENN andere Leute dich erst mal dafür komisch angucken. So eine Sache, wo du den Weg eben erst mal alleine gehen musst, selbst wenn niemand anders mitzieht.

Was weißt du schon, ob du die Rente erreichst?

Meine Mutter hat bei unserem letzten Kaffeetrinken erwähnt, was sie alles für Reisen machen will, wenn sie in zwei Jahren in Rente geht. Hätte ihr jemand bei diesem Kaffeetrinken gesagt, dass sie zwei Wochen später nicht mehr sein würde — sie hätte gelacht. Der Gedanke war für sie genauso abstrus wie er es für dich jetzt gerade ist. In ihrer Sicht war der Tod weit entfernt. Nichts, worüber man „jetzt schon“ hätte nachdenken brauchen.

„Der Mensch plant, und Gott lacht“, heißt es so schön.

Wenn du sagst, „Dies und jenes mache ich morgen“, dann schmunzelt er.

Wenn du sagst, „Dies und jenes mache ich nächste Woche“, dann grinst er.

Und wenn du sagst, „Dies und jenes mache ich in zwei Jahren, oder wenn ich Rentner bin“, dann hält er sich wahrscheinlich vor Lachen den Bauch.

Das Leben kommt eben meist anders, als wir es in unserem Kopf zu zeichnen versuchen.

Sich zusammenzuraffen und die Dinge anzugehen, die man aufschiebt, das ist schwer.

Und mindestens genauso schwer ist es, seine Mitmenschen im Leben ab und zu mit den Augen zu betrachten, mit denen man sie nach ihrem Tod betrachten würde. Zu sehen, was man an ihnen hat. Über den eigenen Schatten zu springen, das eigene Ego und die Umstände der Gegenwart beiseite zu schieben, und diese Menschen für einen Augenblick zu schätzen und zu würdigen.

Und natürlich:

Dasselbe auch mit sich selbst zu tun.

Wenn ich meditiere, dann stelle ich mir manchmal die Frage:

„Was von alledem, was ich gerade wahrnehme, ist ewig?“.

Was ich meine damit ist:

Wenn ich sitze und nichtstue, dann kommen alle möglichen Dinge hoch. Ich höre Geräusche. Mir tut der Knöchel weh. Ich bekomme Durst. Ich habe eine Idee, die ich unbedingt aufschreiben will, oder mir fällt etwas ein, das ich unbedingt noch erledigen muss. Aber all diese Dinge sind wichtig nur im Jetzt. Schon zwei Minuten später werden sie wieder vergessen sein. Und in zwei Jahren werde ich nicht mal wissen, dass ich diese Gedanken überhaupt hatte — ja, ich werde dann nicht einmal mehr wissen, dass es den heutigen Tag überhaupt gegeben hat! Das heißt, all das, was da hochkommt, ist Rauschen. Das ist nicht was ich bin.

Die eine Sache, die — subjektiv für mich — „ewig“ ist… die immer da gewesen ist… und die immer da sein wird so lange ich bin… das ist mein stilles Bewusstsein. Also nicht die Lichter und Schatten auf der Leinwand — sondern die Leinwand selbst. Und darauf lenkt mich diese Frage, wenn ich mich für ein paar Minuten hinsetze und meditiere.

(Ich tue das übrigens selbst viel zu selten.)

Der Dalai Lama nennt diese Fähigkeit übrigens „Mitgefühl“. Das Leben an sich zu spüren, und es deutlich zu spüren, trotz all der Ablenkungen, die der Alltag uns entgegenwirft.

Wir vergessen das oft uns selbst gegenüber, und wir vergessen das oft Anderen gegenüber.

Spätestens der Tod aber erinnert uns daran.

Und ich schätze, das ist der Kern dieser E-Mail an dich heute.

Der Tod ist nicht der Gegner des Lebens. Sondern er ist vor allem der Grund dazu, überhaupt richtig zu leben.

In diesem Sinne,
Hau rein mein Lieber!

Liebe Grüße,
Leo