Bist du das Kamel, bist du der Löwe, oder bist du das Kind?
Das sind die drei Stufen der Entwicklung, die Friedrich Nietzsche nennt:
DAS KAMEL
Das Kamel ist treu und brav. Es will gefallen. Es kniet nieder und beugt sich dem Willen seines Herrn. Ohne einen Herrn fühlt es sich hilflos. Es braucht jemandem, der ihm sagt, was richtig ist und was falsch. Der Leitspruch des Kamels ist „Du sollst“. Einen eigenen Willen kennt es nicht. Alles, was es jemals will, ist seinem Meister zu gefallen und alles „richtig zu machen“.
Mich erinnert das Kamel zum Beispiel an den Mann, der immerzu fragt, „Was wollen Frauen?“, oder „Wie gefalle ich ihr?“. Solch ein Mann kniet nieder vor der Frau, als sei sie Herrin über sein Leben. (Und natürlich unterschätzt er dabei sich, und überschätzt dabei sie.)
Mich erinnert das Kamel auch an das, was uns allen in der Schule beigebracht wird: Sich einzufügen. Nicht aufzufallen. Dinge so zu machen, wie es uns vorgemacht wird. Immer schön Mittelmaß zu bleiben. Zu brillieren, indem man nachplappert. Zu gewinnen, indem man ist wie alle Anderen, und indem man versteckt, was in dieses Bild nicht hineinpasst.
DER LÖWE
Der Löwe ist das Kamel, das amokläuft. Der Löwe ist das Kamel, das die Schnauze voll hat davon, immer „Ja und Amen“ sagen zu müssen. Der Löwe kann den Satz „Du sollst!“ nicht mehr hören. Er tritt dem gesellschaftlichen Druck mit Trotz entgegen. Der Löwe sieht, wie all die Kamele da draußen ihre angepasstes Leben „in der Matrix“ führen — und er brüllt laut „Nein!“ dazu. Der Löwe weigert sich, gezähmt zu werden. Er kämpft gegen jeden und alles, das ihn unterzuordnen versucht. Der Leitspruch des Löwen ist „Ich will!“. Frei zu sein von jeder Form von Bindung, das ist sein höchster Wert.
Der Löwe überkompensiert die Sklavenmentalität des Kamels. Wo das Kamel zu allem Ja gesagt hat, sagt nun der Löwe zu allem Nein. Er ist wie der schüchterne Junge, der zum Pick-Up-Artist geworden ist, und der jetzt den Mädchen nicht mehr nachweint, sondern Macht über sie auszuüben sucht. Oder wie der Hartz-IV-Empfänger, der sich selbst zum Unternehmer gemacht hat, und sich nun ausschließlich danach richtet, was das meiste Geld einbringt.
Der Löwe weiß, WOVON er frei ist — aber er weiß nicht, WOZU er frei ist.
Er will die Macht — aber ihm fehlt die Vision.
Er brüllt „Nein!“ — aber er tut es zwanghaft, und er ist auch nicht fähig, „Ja“ zu sagen. Er lebt, wie das Kamel, immer noch in Furcht. Die Furcht des Kamels war die Furcht gewesen, allein zu sein. Die Furcht des Löwens ist die Furcht, gebunden zu sein.
Das Kamel und der Löwe, sie beide leben in der Welt wie Kinder unter ihren Eltern: Das Kamel lebt wie das Kind, das seine Eltern vergöttert und „Ja und Amen“ zu allem sagt, das von ihm verlangt wird. Und der Löwe lebt wie das Kind, das gegen seine Eltern rebelliert, das ihnen ständig beweisen muss, wie unabhängig es von ihnen ist.
Ob positiv beim Kamel oder negativ beim Löwen:
Die Hauptrolle in ihrem Leben spielen die Eltern, oder, im überhäuslichen Bereich, „DIE ANDEREN“.
Und so ist auch der Löwe nur eine Zwischenstufe.
Auch für ihn gibt es noch eine Stufe höher.
Und was wird der Löwe, wenn er es Brüllens müde wird?
Er wird zum Kind.
DAS KIND
Das Kind ist unbekümmert. Das Kind ist frei von Furcht. Das Kind experimentiert. Es ist „es selbst“. Es findet seine eigenen Werte. Es mag Werte finden, die mit den Werten der Anderen übereinstimmen, oder es mag Werte finden, die dem status quo entgegenstehen. Es ist weder ein die eine Richtung noch in die andere gebunden.
Nietzsche sagt:
Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.
Dem Kind ist das Sich-Schämen fremd. Es schaut nie zurück auf Vergangenes, und es fürchtet sich nicht vor Fehlern. Es hat unbändige Energie. Es steckt voller Tatendrang. Es ist zuhause in der Welt, auf dem Boden der Erde — denn weil es sich nicht schämt, versteckt es sich auch nicht in seinem Kopf.
Das Kind sagt was es will. Bekommt es das nicht, sucht es es sich auf anderen Wegen. Das Kind kann noch so oft hinfallen — es steht immer wieder auf. Den Begriff des „Versagens“ kennt es nicht, der Sinn des „Aufgebens“ ist ihm unbekannt.
Das Kind ist hartnäckig und egoistisch — aber es ist nicht egozentrisch oder feindselig. Es will nicht, um zu schaden oder zu beeindrucken, sondern sein Wille ist rein.
Es WILL weil es WILL.
Wahrscheinlich deshalb geben wir ihm auch so gerne nach.